Hüfners Wochenkommentar: "Das Decoupling Europas"

huefner+martin+120x125.jpg

16. Oktober 2014. Frankfurt (Börse Frankfurt). Was sind derzeit die wichtigsten Sorgen der Weltwirt­schaft? In der vergangenen Woche nahm ich an der Jahrestagung des Internationalen Währungsfonds in Washington teil. Ich stieß dabei auf eine Umfrage, die dort unter internationalen Bankern gemacht wurde. Sie ist nicht repräsentativ im Sinne der Statistik, spiegelt aber eine verbreitete Stimmung wider.

Danach ist die größte Herausforderung für die Märkte nicht die kommende Zinserhöhung in den USA. Es sind auch nicht die Schwierigkeiten Chinas und einiger Schwellen- und Entwicklungsländer oder die geopoliti­schen Risiken in der Welt. 45 Prozent der Befragten waren beunruhigt über den Absturz des Wachstums und die Gefahr einer Deflation in Europa. Der Euro ist wieder auf dem Radar der Finanzmärkte. Vor einem Jahr hatten dieselben Banker erleichtert geglaubt, die Eurokrise sei vorüber. Es gab massive Geldzuflüsse in die Währungs­union. Jetzt wird Kapital abgezogen. Die Grafik zeigt, wie sich das zuletzt am Aktienmarkt ausgewirkt hat. Der DAX ging nach unten, der Dow hielt sich relativ gut.

Was den generellen Zustand der Weltwirtschaft betrifft, waren die Meinungen geteilt. Bei einigen überwog der Pessimismus. Sie glauben, dass die Welt vor einem neuen Abschwung steht. Andere sprachen eher von einer vorübergehenden Wachstumsdelle. Der IWF prägte den Begriff der „neuen Mittelmäßigkeit“. Die Meinungsvielfalt beruht im Wesentlichen darauf, dass die Lage der einzelnen Regionen so unterschiedlich ist wie schon lange nicht mehr.

Decoupling bei Aktien
Huefner_16_Oktober_2014
Dow versus DAX, Anfang 2014 = 100; Quelle: Bloomberg

Die USA erleben einen Boom. Die Krise ist vorbei. Das reale Wachstum wird 2015 vermutlich über 3 Prozent liegen. In China wächst die Wirtschaft noch mit beachtlichen Raten (7 Prozent). Die Dynamik flacht sich aber deutlich ab. Mittelfristig ist nur noch mit einer Expansion von 6 Prozent oder gar 5 Prozent zu rechnen. Die Regierung in Peking steu­ert nicht dagegen. Denn auch das niedrigere Wachstum reicht aus, um genügend Beschäftigung im Land zu schaffen.

Europa steht am Rande einer Rezession. Aber die Ent­wicklung ist nicht einheitlich. Der Chefvolkswirt der EZB, Peter Praett, wies darauf hin, dass die „Reforming Coun­tries“ (= Spanien, Irland, Portugal) wieder gutes Wachs­tum hätten. Nur in den „Non-Reforming Countries“ sieht es schlecht aus. Zu ihnen rechnet er nicht nur Italien und Frankreich, sondern – wer hätte das gedacht – auch Deutschland. Eine solche Aussage wird Frau Merkel nicht freuen.

In einer Weltwirtschaft mit so großen Unterschieden müssen sich die Wechselkurse verändern. Vor allem muss der Euro schwächer werden, der US-Dollar stär­ker. Ich habe keinen getroffen, der in den nächsten 18 Monaten eine Abwertung der US-amerikanischen Währung erwartet. Die Meinungsunterschiede drehten sich nur darum, in welchem Ausmaß der US-Dollar an Wert gewin­nen könnte. Einige waren vorsichtig und rechneten mit einem Euro-Dollar-Kurs von 1,15 Dollar. Andere waren aggressiver und sagten eine Parität für den Wechselkurs voraus. Wenn es zu solchen Verwerfungen auf den De­visenmärkten kommen sollte, kann das wohl kaum ohne krisenhafte Zuspitzungen passieren. Über neue Wäh­rungskrisen wurde in Washington aber nicht gespro­chen.

Solche Wechselkursbewegungen haben Rückwirkun­gen. Sie ebnen die weltwirtschaftlichen Unterschiede ein. Der Boom in den USA wird gebremst. Das wird in den USA nicht ohne Widerstand hingenommen werden. Andererseits sind sich die Vereinigten Staaten darüber im Klaren, dass ordentliches Wachstum in Europa auch in ihrem Interesse liegt. Umgekehrt ist die Euro-Abwer­tung (zusammen mit der Ölpreissenkung) ein Konjunk­turprogramm für Europa.

Was die Geldpolitik betrifft, gab es in Washington wenig Angst, dass die bevorstehende „Normalisierung der US-Geldpolitik“ zu größeren Problemen an den Märkten füh­ren könnte. Das hat mich überrascht. Zu erwarten war dagegen, dass Europa zu weiteren Lockerungen ge­drängt wurde. Es ist aber keineswegs so, dass alle US-Ame­rikaner für Staatsanleihekäufe durch die EZB eintreten. Selbst ein so prominenter Kritiker des Euros wie der US-amerikanische Professor Martin Feldstein wandte sich dagegen. Eine solche Maßnahme wirke nur, wenn da­durch – wie in den USA – die Zinsen gesenkt werden können. In Europa seien sie aber schon niedrig.

Anderes Thema: Vor einem Jahr überwogen bei den Banken die Klagen über die vielen regulatorischen Veränderungen, die ihre Geschäftsmöglichkeiten einschnür­ten. Das Kapitel ist noch nicht abgehakt. Es hat aber an Brisanz verloren. Jetzt geht es für die Banken mehr um die Herausforderungen durch die neuen Technologien: Die Probleme des „Big Data“, die Gefahren von Cyber-Attacken und natürlich auch die Veränderungen beim Zahlungsverkehr. Die Banken klagen nicht mehr so viel. Sie schauen wieder mehr nach vorne. Das ist erfreulich.

Für Anleger drei Schlussfolgerungen

Erstens ist der Pessimismus, den man in Washington zur Lage im Euro hörte, aus meiner Sicht genauso über­trieben wie vor einem Jahr der Optimismus. Die Banker lassen sich hier mehr von Stimmungen treiben als von realen Fakten. Objektiv ist die Lage in Europa zwar nicht gut, aber auch nicht so schlecht, wie sie gemacht wird.

Gleichwohl, zweitens, muss man davon ausgehen, dass es in Zukunft weniger Auslandsgelder gibt, die auf den europäischen Kapitalmärkten investiert werden. Damit fehlt eine wichtige Antriebskraft für die Märkte.

Drittens müssen wir uns auf turbulente Zeiten an den Devisen­märkten einstellen. Da kann man Geld verdienen, wenn man auf eine Aufwertung des US-Dollars setzt. Andererseits bringen Währungsunruhen Unsicherheiten in das Sys­tem, die sich auch auf die Aktien- und Bonds-Märkte übertragen. Freilich gibt es ein Fragezeichen: Wenn alle auf eine Aufwertung des US-Dollars setzen, ist die Gefahr groß, dass es am Ende doch anders kommt.

Anmerkungen oder Anregungen? Martin Hüfner freut sich auf den Dialog mit Ihnen: redaktion@deutsche-boerse.com.

von Martin Hüfner, Assenagon
© 16. Oktober 2014

Dr. Martin W. Hüfner ist Chief Economist bei Assenagon. Viele Jahre war er Chefvolkswirt der Bayerischen Hypo- und Vereinsbank AG und Senior Economist der Deutschen Bank AG. Er leitete fünf Jahre den renommierten Wirtschafts- und Währungsausschuss der Chefvolkswirte der Europäischen Bankenvereinigung in Brüssel. Zudem war er über zehn Jahre stellvertretender Vorsitzender beziehungsweise Vorsitzender des Wirtschafts- und Währungsausschusses des Bundesverbandes Deutscher Banken und Mitglied des Schattenrates der Europäischen Zentralbank, den das Handelsblatt und das Wallstreet Journal Europe organisieren. Dr. Martin W. Hüfner ist Autor mehrerer Bücher, unter anderem „Europa – Die Macht von Morgen“ (2006), „Comeback für Deutschland“ (2007), „Achtung: Geld in Gefahr“ (2008) und „Rettet den Euro!“ (2011).