Hüfners Wochenkommentar: "Zurück zur ‚alten Normalität’"

huefner+martin+120x125.jpg

25. Juni 2014. FRANKFURT (Börse Frankfurt). Vor Kurzem las ich die neue Prognose der US-amerikani­schen Investmentbank Morgan Stanley über die weitere wirtschaftliche Entwicklung der Welt. Der Chefstratege der Bank, Joachim Fels, hat sie unter den Titel gestellt „Langweilig, aber besser“ (Boring but better). Wer wollte sich darüber nicht freuen? Das Wachstum der Industrie­länder stabilisiert sich. Die Deflationsbefürchtungen wer­den geringer, ohne dass es zu einer neuen Inflation kommt. Die Zinsen bleiben niedrig. Da kann sich zumin­dest der Aktienanleger getrost zurücklehnen. So gut war es schon lange nicht mehr.

Trotzdem plagt viele ein Bauchgrimmen. Ist die Welt wirklich so gut? Gemessen an den üblichen Zahlen si­cher. Sie zeigen aber nur die Hälfte der Realität. Vor al­lem ist aus ihnen nicht ersichtlich, dass sich derzeit in der Welt ein neues Ungleichgewicht aufbaut. Es besteht darin: Realwirtschaft und Finanzmärkte haben den Kri­senmodus verlassen, die Wirtschaftspolitik, vor allem die Währungspolitik jedoch noch nicht. Sie ist nach wie vor ultralocker. Das passt auf Dauer nicht zusammen. Da droht neues Ungemach.

Die ultralockere Geldpolitik und die hohen Staatsschul­den waren richtig und notwendig, um die große Finanz- und Wirtschaftskrise zu bekämpfen. Sie haben das Schlimmste verhindert. Es kam – anders als in der Welt­wirtschaftskrise vor 80 Jahren – nicht zu größeren politi­schen Verwerfungen. Dafür sollten wir dankbar sein.

Aber das ist jetzt Vergangenheit. Nach historischen Er­fahrungen dauern solche Anpassungsprozesse bei Kri­sen des damaligen Ausmaßes rund vier bis fünf Jahre. Diese Zeit ist abgelaufen. Die Volkswirtschaften wach­sen wieder. Strukturelle Verzerrungen vor allem an den Häusermärkten sind überwunden. Unternehmen sind wieder wettbewerbsfähiger. Banken haben Übertreibun­gen zurückgeführt und ihr Eigenkapital gestärkt.

Natürlich verläuft der Prozess regional unterschiedlich. Am weitesten fortgeschritten sind die Vereinigten Staaten und Großbritannien. Kontinentaleuropa tut sich noch schwer. Die Krise ist hier noch nicht überwunden. Die Währungsunion ist jedoch auf dem richtigen Weg. Japan hat gerade erst angefangen, Deflation und Re­zes­sion zu verlassen.

Das ändert jedoch nichts an der grundsätzlichen Dia­gnose. Wir dürfen nicht glauben, dass jetzt wieder alles in Ordnung sei. Vielmehr müssen nun die Rahmenbe­dingungen, die zur Überwindung der Krise geführt ha­ben, wieder auf „Normal“ gestellt werden. Die Zinsen müssen wieder angehoben werden. Normal wäre, wenn sie sich in etwa auf der Höhe von Wachstum und Preis­steigerung bewegen, also im Euroraum bei gut 2 Prozent, in den USA eher bei 4 Prozent.

Zu viel Liquidität
Hüfnergraphik_Juni
Basisgeld in % GDP, USA; Quelle: FED

Die Liquidität muss wieder zurückgeführt werden. Die Grafik zeigt die Entwicklung der Basisgeldmenge im Verhältnis zum Bruttoinlandsprodukt in den USA in den letzten 50 Jahren. Die Relation könnte man die „volkswirtschaftliche Kassenhaltung“ bezeichnen. Sie gehört zu den langfristigen Strukturkonstanten und lag in den letzten Jahrzehnten in den USA immer zwischen 5 Prozent und 10 Prozent. 2008 ist sie im Zuge der Krisenbekämp­fung auf über 20 Prozent hochgeschnellt. Jetzt muss sie zu­rückkommen (gestrichelte Linie). Ähnliches gilt für an­dere Bereiche der Politik, wie etwa die viel zu hohen Staatsschulden.

Natürlich muss und wird nicht alles wieder wie früher sein. Wir leben in einer anderen Zeit. Die Zinsen werden in Zukunft vermutlich niedriger sein. Die Finanzmi­nister brauchen dies, um die Staatsschulden nicht zu groß werden zu lassen. Vielleicht spielt auch eine Rolle, dass die heutigen Gesellschaften der Zukunft in ihren Überle­gungen nicht mehr eine so große Bedeutung zu­messen. Die Liquidität kann wegen anderer Zahlungs­modalitäten vielleicht auch etwas höher sein. Vielleicht werden wir auch mit strukturell höheren Staatsschulden leben und unsere Vorstellungen von der langfristigen Tragfähigkeit von Schulden anpassen müssen.

Unbestreitbar ist jedoch, dass der gesamte wirtschafts- und währungspolitische Rahmen der Marktwirtschaft so nicht bleiben kann. In der Geldpolitik beginnen die USA und Großbritannien schon damit, erste Maßnahmen zur Verringerung der Liquidität und zur Erhöhung der Zinsen ins Kalkül zu ziehen. Bei der Staatsverschuldung geht es noch etwas langsamer. Das, was derzeit an Fort­schritten in einigen Ländern erzielt wurde (unter ande­rem in Deutschland), beruht zum großen Teil auf Ver­besserungen der Konjunktur.

Die Veränderungen, die hier anstehen, sind riesig. Sie sind so groß wie 2008/2009, nur eben mit umgekehrtem Vorzeichen. Sie werden alle Bereiche der realen und monetären Aktivität erfassen. Ob sie sich reibungslos vollziehen, kann heute niemand sagen. Es gibt keine Beispiele aus der Vergangenheit, auf die man zurück­greifen kann. Nach der großen Weltwirtschaftskrise kam es zu großen politischen und militärischen Verwerfungen bis hin zum Zweiten Weltkrieg. So etwas wird sich hof­fentlich nicht wiederholen. Kleinere Krisen in der Nach­kriegszeit wurden teils relativ reibungslos überwunden, teils führten sie zu erheblichen Friktionen. Sehr viel hängt davon ab, wie geschickt und vorsichtig die Zen­tralbanken vorgehen und wie viel Zeit sie haben, bezie­hungsweise sie sich für die Anpassung nehmen.

Für den Anleger

Langweilig wird es auf den Finanzmärkten nicht. Die Kri­senbekämpfung war für die Finanzmärkte eine goldene Zeit. Wenn sie zu Ende geht, wird es zunächst viel Unsi­cherheit geben. Niemand weiß, wie die neue Welt aus­sieht. Die Kurse werden nachgeben, wenn die Zentral­banken nicht ganz besonders „zartfühlend“ vorgehen. Für die längere Frist kommt es darauf an, ob die Real­wirtschaft so gut ist, dass sie die Finanzmärkte auch oh­ne die Droge der ultralockeren Politik bei den gegeben­en Niveaus trägt.

Anmerkungen oder Anregungen? Martin Hüfner freut sich auf den Dialog mit Ihnen: redaktion@deutsche-boerse.com.

von Martin Hüfner, Assenagon
© 25. Juni 2014

Dr. Martin W. Hüfner ist Chief Economist bei Assenagon. Viele Jahre war er Chefvolkswirt der Bayerischen Hypo- und Vereinsbank AG und Senior Economist der Deutschen Bank AG. Er leitete fünf Jahre den renommierten Wirtschafts- und Währungsausschuss der Chefvolkswirte der Europäischen Bankenvereinigung in Brüssel. Zudem war er über zehn Jahre stellvertretender Vorsitzender beziehungsweise Vorsitzender des Wirtschafts- und Währungsausschusses des Bundesverbandes Deutscher Banken und Mitglied des Schattenrates der Europäischen Zentralbank, den das Handelsblatt und das Wallstreet Journal Europe organisieren. Dr. Martin W. Hüfner ist Autor mehrerer Bücher, unter anderem „Europa – Die Macht von Morgen“ (2006), „Comeback für Deutschland“ (2007), „Achtung: Geld in Gefahr“ (2008) und „Rettet den Euro!“ (2011)