Hüfners Wochenkommentar: Eine Währung – zwei Sichtweisen


Hüfner

9. November 2011. FRANKFURT (Boerse Frankfurt). In der Eurokrise reden alle über die Staatsfinanzen. Mit Recht, denn die Schulden sind zu hoch und die Defizite müssen zurückgeführt werden. Das wurde auf dem
G-20-Gipfel in der letzten Woche in Cannes erneut betont. Es ist aber nur die halbe Wahrheit. Die öffentlichen Schulden in Europa sind wesentlich geringer als in den USA, Großbritannien oder Japan, wo es keine solche Krise gibt. Zudem sind die Schulden in diesem Jahr deutlich herunter gekommen. Selbst das Defizit Griechenlands ist relativ gesehen inzwischen niedriger als das der USA. Die Krise in Europa hat sich aber trotzdem nicht entspannt, sondern verschärft. Es muss also noch anderes geben.

Um das zu sehen, muss man sich einmal die Wechselkursentwicklung des Euro gegenüber dem US-Dollar anschauen. Wir haben eine Währung in Europa. Sie sieht aus den verschiedenen Ländern jedoch ganz unterschiedlich aus. In der Grafik habe ich oben den Eurodollar aus deutscher Sicht dargestellt. Dabei wurden die Eurokurse vor 1999 aus der D-Mark abgeleitet. Der Trend geht eindeutig nach oben. Darunter sind die Eurodollarkurse vor 1999 aus der italienischen Lira errechnet. Hier geht der Trend erst nach unten, dann nach oben. Die Unterschiede sind verblüffend. Man würde nicht denken, dass es die gleiche Währung ist, die hier abgebildet ist. (Auf die unterschiedlichen Darstellungsweisen des Euro hat mich Azhar Cheema vom ARD Börsenstudio in Frankfurt hingewiesen).

Aus deutscher Sicht hat sich am Eurowechselkurs gegenüber dem US-Dollar fast nichts geändert. Wenn man die Euroeinführung nicht explizit kennzeichnen würde (senkrechter Strich in der Grafik), würde man sie kaum erkennen. Für die Unternehmen blieb die Herausforderung vorher wie nachher, durch Produktivitätssteigerungen gegen die „Peitsche der Aufwertung“ anzukämpfen.

Aus italienischer Sicht sieht das ganz anders aus. Vor der Einführung der Währungsunion gab es kräftige Abwertungen, die die Unternehmen entlasteten. In den 30 Jahren vor der Einführung des Euro (das ist praktisch eine Generation), verringerte sich der Wert der italienischen Lira gegenüber dem US-Dollar um 70 Prozent. Dann stellte sich das Koordinatensystem von heute auf morgen auf den Kopf. Die Gemeinschaftswährung wertete sich um 20 Prozent auf.

Das war am Anfang nicht so stark spürbar. In den ersten Jahren der Währungsunion hat sich der Euro vorübergehend noch weiter abgewertet. Zudem profitierte die Wirtschaft des Landes von den kräftig gesunkenen Zinsen, die die Binnennachfrage anheizten. Inzwischen ist der Effekt in der Wirtschaft aber überall präsent. Er erfordert von den Unternehmen ganz neue Verhaltensweisen. Exporte werden schwieriger. Die Importkonkurrenz nimmt zu. Manche Branchen sind überhaupt nicht mehr rentabel darzustellen. Die Wirtschaftsstruktur muss angepasst werden. In der Lohnpolitik sind neue Maßstäbe gefragt. Es ist klar, dass das nicht in kurzer Zeit zu bewältigen ist. Diese Aufgabe stellt sich unabhängig und zusätzlich zur Konsolidierung der öffentlichen Finanzen.

Beispiel Maschinenbau: Der norditalienische Maschinenbau galt in der Nachkriegszeit als Perle des Landes. Er war einer der schärfsten Konkurrenten der deutschen Maschinenbauer. Inzwischen ist er fast von der Bildfläche verschwunden. Die Unternehmen konnten sich nicht rechtzeitig auf die neuen Gegebenheiten einstellen.

Beispiel Leistungsbilanz: Sie war früher in Italien immer mal im Plus oder im Minus. Seit Einführung des Euro ist sie jedoch kräftig in die roten Zahlen gerutscht. Im Jahr 2000 gab es noch einen Überschuss von 0,7 Prozent des Bruttoinlandsprodukts, inzwischen liegt das Defizit bei 3,5 Prozent. In Deutschland war es genau umgekehrt. Die Überschüsse wurden immer größer. Diese Entwicklung ist mit verantwortlich für die wachsenden Target-Salden bei der EZB, die in der Diskussion über die Eurokrise eine so große Rolle spielen.
Italien ist hier nur ein Beispiel. In anderen südeuropäischen Ländern (auch in Frankreich) ist die Situation vergleichbar. Nur Österreich und die Benelux-Länder machten ähnliche Erfahrungen wie Deutschland.
Das zeigt: Der Übergang zu einer Währungsunion ist nicht nur ein monetäres Phänomen. Es reicht nicht die Geldpolitik zu vereinheitlichen, eine gemeinsame Zentralbank zu schaffen und Stabilitätskriterien für die Fiskalpolitik zu entwickeln. Es müssen auch die realen Anpassungen bewältigt werden. Dazu reicht kein Topf voller Geld beim EFSF.

Für den Anleger

Die Regierungen drehen auch zwei Jahre nach Beginn der Krise noch nicht an den richtigen Schrauben. Die Krise wird die Märkte daher länger belasten als viele denken. Das Beste, was passieren kann, ist dass in der Welt ein neuer Krisenherd auftaucht, der den Euro in den Schatten stellt. Aber das hieße, den Teufel durch den Beelzebub auszutreiben.

© 9. November 2011/Martin Hüfner

Dr. Martin W. Hüfner ist Chief Economist bei Assenagon Asset Management S.A. Er war viele Jahre Chefvolkswirt beziehungsweise Senior Economist bei der HypoVereinsbank und der Deutschen Bank. In Brüssel leitete er den renommierten Wirtschafts- und Währungsausschuss der Chefvolkswirte der Europäischen Bankenvereinigung. Hüfner schreibt für große internationale Zeitungen wie die Neue Züricher Zeitung oder die Schweizer Finanz und Wirtschaft sowie für große Zeitungen in Deutschland. Er ist Autor mehrerer Bücher, u. a. „Europa – Die Macht von Morgen“ und „Comeback für Deutschland“.