Hüfners Wochenkommentar: Götterdämmerung in China?



Hüfner

6. Mai 2011. FRANKFURT (Börse Frankfurt). Jeder Boom geht einmal zu Ende. In den letzten Tagen wurde ich zunehmend nach den Aussichten für die chinesische Wirtschaft gefragt. Könnte es sein, dass die hohen Wachstumsraten im Reich der Mitte, in absehbarer Zeit, der Vergangenheit angehören werden und das Land dann nur noch mit „normaler“ Dynamik expandieren wird? Immerhin rechnet die Führung in Peking in ihrem neuen Fünf-Jahres-Plan „nur“ noch mit einer Zunahme des realen Bruttoinlandsprodukts von 7 Prozent p. a., verglichen mit 11 Prozent p. a. bisher. Andererseits hatte sie in der letzten Planperiode eine jährliche Erhöhung der Wirtschaftsleistung von 7,5 Prozent p. a. angesetzt und sich nicht daran gestört, dass am Ende viel mehr herauskam.

Wenn es wirklich zu einer deutlichen Verlangsamung des chinesischen Wachstums kommen würde, wäre das für die Weltwirtschaft von außerordentlicher Bedeutung. Das Land macht zwar nur 9 Prozent des Weltsozialprodukts aus. Es trägt aber erheblich zum globalen Aufschwung bei. Allein die direkten Effekte belaufen sich auf 20 Prozent. Rechnet man die indirekten Wirkungen auf die Expansion in anderen Ländern hinzu (vor allem die Dynamik der westlichen Exporte in den Fernen Osten), dann kommt man auf deutlich mehr. Ohne China wäre die Welt nicht so schnell aus der Krise gekommen. Ohne China stünde sie heute bei Weitem nicht so gut da. Auch die amerikanische Arbeitslosigkeit wäre dann noch höher. Insofern ist die Frage nach den Aussichten der fernöstlichen Wirtschaft wichtig.

Abwegig sind Zweifel am chinesischen Wachstum nicht. Das Land hat sich zwar in der Krise hervorragend geschlagen. Es wird auch in diesem Jahr wieder um 9 Prozent real expandieren (erstes Quartal +9,7 Prozent gegen Vorjahr) – und das trotz der monetären Restriktion, mit der die hohe Preissteigerung (5,4 Prozent) bekämpft werden soll. Andererseits wissen alle, dass die dortige Wirtschaftspolitik mit erheblichen Problemen zu kämpfen hat: Die hohen regionalen und sozialen Gegensätze, die alternde Bevölkerung, der Gegensatz zwischen sozialistischer Planwirtschaft und dem marktwirtschaftlichen Verhalten der Unternehmen, die hohen Leerstände bei Immobilien in der südwestlichen Boomregion, die faulen Kredite in den Bilanzen der Banken und vieles andere mehr. Irgendwann muss der Boom der chinesischen Wirtschaft einmal zum Ende kommen.

In der Grafik ist China dem Muster Japans gegenübergestellt. Japan ist bis Anfang der 70er Jahre mit Raten gewachsen, die denen des heutigen Chinas entsprechen. Anschließend hat sich das Tempo auf 4,5 Prozent p. a. verlangsamt. Seit den 90er Jahren bewegt sich Japan nur noch bei 1 Prozent p. a. So ein Gang der Dinge ist auch für China vorstellbar. In den nächsten Jahren gäbe es dort dann nur noch eine Dynamik von 5 Prozent p. a. In 2030 käme es zu dem großen Krach und danach nur noch zu marginaler Expansion.

Der renommierte amerikanische Ökonom Barry Eichengreen hat dazu eine interessante These aufgestellt. Er hat zusammen mit einem koreanischen Professor 39 Fälle untersucht, in denen schnell wachsende Volkswirtschaften mit einem Pro-Kopf-Einkommen von wenigstens 10.000 US-Dollar, einen starken und anhaltenden Wachstumsrückgang erlebten. Sein Ergebnis: Wenn China dem Muster der Anderen folgen würde, würde es spätestens ab 2014 einen Wachstumseinbruch erleben und danach mit wesentlich geringeren Raten expandieren.

Die Hauptbegründung: 2014 wird China ein Pro-Kopf-Einkommen von 16.500 US-Dollar erreichen (zu US-Preisen von 2005). Das war das Niveau, bei dem sich das Wachstum in den anderen Ländern verlangsamte. Ab dann verringert sich erfahrungsgemäß der „Hunger“ der Gesellschaften nach Wachstum. Sie geben sich mit weniger Expansion zufrieden.

Hinzu kommen noch ein paar weitere Faktoren: Das hohe Wachstum lässt nach der historischen Erfahrung schon eher nach, wenn die Zahl der Älteren in der Gesellschaft steigt. Das ist in China wegen der früheren „Ein-Kind-Politik“ und der steigenden Lebenserwartung der Fall. Der Umschwung kommt auch früher, wenn die Währung unterbewertet ist, wie das in China der Fall ist. Dann ist das Land leichter verletzlich, bei externen Schocks in der Weltwirtschaft. Zudem bremst eine unterbewertete Währung die Innovationsaktivitäten in der Exportindustrie, weil es die Unternehmen wechselkursbedingt leichter auf den Weltmärkten haben. Was das Wachstum bremst, sind auch wechselkursbedingte Übertreibungen in der chinesischen Exportindustrie. So etwas gab es früher auch in Japan und Korea.

All das klingt nicht unplausibel. Eichengreen folgert daraus, dass eine Wachstumsverlangsamung in China bereits vor 2014 eintreten kann. Sie stünde danach im nächsten, spätestens im übernächsten Jahr an. Natürlich ist die Geschichte kein zwingender Beweis. Aber es sind Zeichen, die man sich anschauen sollte. Nicht zu vergessen ist, dass die Phase sehr hohen wirtschaftlichen Wachstums nicht viel älter als 35 Jahre ist (Beginn mit Maos Tod und der Regierungszeit Deng Xiaopings). Davor hatte China lange Perioden mit Hungersnöten.

Für den Anleger

Aus diesen Überlegungen ergeben sich natürlich keine unmittelbaren Konsequenzen für die Geldanlage, auch nicht für Investments in China. Dafür ist die Perspektive zu spekulativ (China ist schon aufgrund seiner Größe schwer vergleichbar mit Japan und Korea). Auch die Fixierung auf das Jahr 2014 ist mit Risiken verbunden. Andererseits zeigt sich, dass die einfache Extrapolation einer „china-zentrierten Welt“ und eines „Chimerica“ (also China zusammen mit Amerika), das die Welt dominiert, zu einfach ist. Es kann auch anders kommen.

Anmerkungen oder Anregungen? Martin Hüfner freut sich auf den Dialog mit Ihnen: redaktion@deutsche-boerse.com

© 6. Mai 2011/Martin Hüfner

Martin Hüfner ist Chief Economist bei Assenagon Asset Management S.A. Er war viele Jahre Chefvolkswirt beziehungsweise Senior Economist bei der HypoVereinsbank und der Deutschen Bank. In Brüssel leitete er den renommierten Wirtschafts- und Währungsausschuss der Chefvolkswirte der Europäischen Bankenvereinigung. Hüfner schreibt für große internationale Zeitungen wie die Neue Züricher Zeitung oder die Schweizer Finanz und Wirtschaft sowie für große Zeitungen in Deutschland. Er ist Autor mehrerer Bücher, u. a. „Europa – Die Macht von Morgen“ und „Comeback für Deutschland“.