Hüfners Wochenkommentar: Macht Deutschland jetzt den Fehler der Griechen?


Hüfner

22. Juli 2011. FRANKFURT (Börse Frankfurt). Verkehrte Welt: Da klagen in Deutschland alle über die hohe Steuer- und Abgabenlast. Dann beschließt die Bundesregierung eine Senkung – und keiner freut sich. Wie kann das kommen? Zum Teil wird der Regierung vorgeworfen, es handele sich nur um ein Wahlgeschenk. Darauf deutet der ins Auge gefasste Termin 2013 (= nächste Bundestagswahl) hin. Man sollte die Koalition in einer Demokratie aber nicht dafür schelten, dass sie Wahlen gewinnen will.

Aus ökonomischer Sicht sind Steuersenkungen grundsätzlich sinnvoll. Sie entlasten die Bürger, vor allem diejenigen mit niedrigem und mittleren Einkommen. Das erhöht deren Kaufkraft und stärkt den privaten Verbrauch. Wenn auch noch die mittelständischen Unternehmen entlastet würden, könnte dies auch den Investitionen zugute kommen.

Steuersenkungen helfen auch den europäischen Nachbarn. Sie können mehr in die Bundesrepublik exportieren. Der deutsche Leistungsbilanzüberschuss geht zurück.

Natürlich sind die Effekte nicht allzu groß. Die Regierung spricht von einer Entlastung von 7 Milliarden Euro plus eventuell 8 Milliarden Euro durch niedrigere Rentenbeiträge. Das wären zusammen gerade einmal 0,6 Prozent des Bruttoinlandsprodukts beziehungsweise im Schnitt 15 Euro pro Monat für jeden Bürger.

Negativ ist, dass dann das Geld zu einer Verringerung der Staatsverschuldung fehlt (Ende 2010 = 2.080 Milliarden Euro) Das setzt ein schlechtes Beispiel für die eigene Bevölkerung und ist für die Schuldnerstaaten in Südeuropa, die so stark sparen müssen, eine Provokation. Problematisch wäre eine Senkung der Rentenbeiträge, weil jeder weiß, dass die Rentenversicherung durch die demographische Alterung vor großen Belastungen steht.

Negativ sind – und darauf kommt es mir hier an – schließlich die konjunkturellen Wirkungen. Die Bundesrepublik befindet sich derzeit auf dem geraden Weg zu einer Überhitzung. Das Wachstum des Angebots liegt wegen der geringen Investitionstätigkeit der vergangenen Jahre derzeit bei rund 1 Prozent bis 1,5 Prozent pro Jahr. Der Zuwachs der Nachfrage beträgt ein Vielfaches davon (2010: 3,6 Prozent; 2011: 3,4 Prozent; 2012 vermutlich 2 Prozent bis 2,5 Prozent, siehe Grafik). Bis jetzt war das noch vertretbar, weil es nach der Krise noch unausgelastete Kapazitäten gab. In Zukunft muss aber zunehmend mit Engpässen und unerwünschten Preis- und Lohnsteigerungen gerechnet werden. Die Unternehmen klagen zunehmend über Facharbeitermangel.

An sich müsste die Geldpolitik in einer solchen Situation gegensteuern. Das kann sie jedoch nur unzureichend. Sie muss auf die schwächeren Länder in Südeuropa Rücksicht nehmen. Umso stärker müsste die Fiskalpolitik reagieren. Sie muss nicht nur die öffentlichen Defizite zurückführen, wie das derzeit geschieht. Sie müsste darüber hinaus Überschüsse in den öffentlichen Haushalten anstreben, um die Konjunktur zu stabilisieren.

Solche Überschüsse wären der Gegenposten zu den Fehlbeträgen, die vorher zur Bekämpfung der Rezession eingegangen worden waren. Über den konjunkturellen Zyklus sollte die Finanzpolitik stets einen ausgeglichenen Haushalt anstreben (maximal ein leichtes Defizit von 0,35 Prozent nach den Regeln der Schuldenbremse).

Steuersenkungen passen hier nicht in die Landschaft. Natürlich kann es sein, dass der Konjunkturaufschwung in 2013 schon wieder ausläuft und Deutschland in die nächste Rezession kommt. Dann wären Steuersenkungen vielleicht angebracht. Man sollte sie jedoch erst ins Auge fassen, wenn so ein Szenario im Ansatz erkennbar ist.

Es gibt hier Analogien zu der Entwicklung zu Beginn der Europäischen Währungsunion vor zehn Jahren. Damals gab es in den südeuropäischen Staaten eine Überhitzung der Wirtschaft, weil die Euro-bedingt niedrigeren Zinsen einen Bau- und Investitionsboom in Gang setzten. Die Europäische Zentralbank konnte nicht gegensteuern, weil sie Rücksicht auf die schwierige Situation in Deutschland nehmen musste. Die betroffenen Länder hätten durch fiskalpolitische Restriktionen selbst gegensteuern müssen. Das taten sie aber nicht. Die Folge waren stärkere Preis- und Lohnsteigerungen und stark steigende Defizite in der Leistungsbilanz. Das war eine der Hauptursachen für die spätere Schuldenkrise.

Jetzt wiederholt sich das mit umgekehrten Vorzeichen. Die Südländer liegen am Boden, Deutschland hat einen Boom und wieder weigert sich das Boomland, entsprechende fiskalpolitische Restriktionen zu ergreifen. Natürlich ist Deutschland noch weit von den Ungleichgewichten entfernt, die sich in Südeuropa über 10 Jahre entwickelten. Wir stehen aber auch erst am Anfang der Entwicklung.

Für den Anleger

Freuen Sie sich über den Aufschwung in Deutschland. Er wird auch weiter für gute Gewinne, höhere gesamtwirtschaftliche Wachstumsraten und eine bessere Aktienkursentwicklung als in anderen Staaten sorgen. Aber seien Sie sich bewusst, dass das hohe Wachstum zwar nicht sofort, aber auf Dauer nicht mit stabilen Preisen und vernünftigen Lohnerhöhungen durchhaltbar ist. Eine Steuersenkung würde das sich anbahnende Ungleichgewicht noch verstärkten.

Anmerkungen oder Anregungen? Martin Hüfner freut sich auf den Dialog mit Ihnen: redaktion@deutsche-boerse.com

© 22. Juli 2011/Martin Hüfner

Dr. Martin W. Hüfner ist Chief Economist bei Assenagon Asset Management S.A. Er war viele Jahre Chefvolkswirt beziehungsweise Senior Economist bei der HypoVereinsbank und der Deutschen Bank. In Brüssel leitete er den renommierten Wirtschafts- und Währungsausschuss der Chefvolkswirte der Europäischen Bankenvereinigung. Hüfner schreibt für große internationale Zeitungen wie die Neue Züricher Zeitung oder die Schweizer Finanz und Wirtschaft sowie für große Zeitungen in Deutschland. Er ist Autor mehrerer Bücher, u. a. „Europa – Die Macht von Morgen“ und „Comeback für Deutschland“.