Hüfners Wochenkommentar: Zwischenbilanz der öffentlichen Defizite


Hüfner

29. April 2011. FRANKFURT (Börse Frankfurt). In dieser Woche sind die Statistiken über öffentliche Finanzen in der Europäischen Union im letzten Jahr herausgekommen. Bei der Kommentierung haben alle auf Griechenland geschaut, das seine Ziele für 2010 erneut verfehlt hat. Das war in der Tat bedauerlich. Aber in den Zahlen steckt noch erheblich mehr Sprengstoff.

Zunächst: Europa spart weniger, als immer behauptet wird. Die Konjunktur braucht schon lange keine Stützen mehr. Trotzdem liegt das öffentliche Defizit des Euroraums insgesamt immer noch deutlich über der Maastricht-Grenze von 3 Prozent. Im vergangenen Jahr betrug es insgesamt 6 Prozent des Bruttoinlandsprodukts. Es hat sich gegenüber dem Rezessionsjahr 2009 gerade einmal um 0,3 Prozentpunkte verringert. Der Schuldenstand erreichte 85 Prozent des Bruttoinlandsprodukts. Das ist weit weg von einem befriedigendem Ergebnis. So paradox es klingt: Griechenland war 2010 das einzige Euro-Mitglied, das seine Staatsfinanzen wirklich konsolidiert hat (wenn auch natürlich nicht genug). Der Fehlbetrag in seinen Staatsfinanzen verringerte sich um fast 5 Prozentpunkte (von 15,4 Prozent auf 10,5 Prozent). 

Es wird oft gesagt, die Europäer seien bei der Rückführung der öffentlichen Defizite ehrgeiziger und erfolgreicher als die USA. Mit Zahlen kann man dies bisher nicht belegen. In den Vereinigten Staaten ist der Haushaltsfehlbetrag im letzten Jahr von 9,9 Prozent auf 8,7 Prozent zurückgegangen, also deutlich stärker als in Europa. Beim Schuldenstand liegen die Amerikaner bei 92 Prozent des Bruttoinlandsprodukts, die Europäer bei 85,1 Prozent. Das ist kein riesengroßer Unterschied, auch wenn die Zahlen nicht ganz vergleichbar sind. Sie beziehen sich in den USA nur auf den Bundeshaushalt, in Europa auf alle Gebietskörperschaften. Es gibt daher keinen Grund, für die Europäer, mit sich zufrieden zu sein. Wenn es, wie viele vermuten, im Herbst zu einer Eskalation der Schuldenprobleme in den USA kommen sollte, dann müssen auch sie sich warm anziehen.

Interessant an den neuen Zahlen ist, dass die Euroländer in der EU bei den Staatsfinanzen nicht viel besser, zum Teil sogar schlechter aussehen als die Nicht-Euroländer. Dabei sind sie doch immer so stolz auf ihre stabilitätspolitischen Grundsätze. Vor allem die Länder Zentral- und Osteuropas sowie Skandinaviens sind in Sachen Verschuldung besser. Es ist lediglich Großbritannien (zum Teil auch Ungarn), das unter den Nicht-Euroländern wirklich Probleme hat. Sein Defizit betrug im letzten Jahr 10,4 Prozent, seine Gesamtverschuldung 80 Prozent. Von den angekündigten Sparmaßnahmen der Regierung Cameron ist bisher noch nichts zu sehen. Solange sich das nicht ändert, ist auch UK bei einer weltweiten Staatsschuldenkrise noch nicht aus dem Schneider.

 

Wenn man sich die Euroländer anschaut, so kann man drei Gruppen von Staaten unterscheiden (siehe Grafik). Das eine sind die Musterknaben, die die Maastricht-Kriterien ohne Schwierigkeiten erfüllen. Das sind Finnland, Luxemburg und das neue Euro-Mitglied Estland. Eine zweite Gruppe umfasst die Staaten, deren Defizit sich zwischen 3 Prozent und 6 Prozent (also dem doppelten Maastricht-Kriterium) bewegt. Dazu gehören Deutschland, Österreich und die Niederlande.

Hier befinden sich aber auch Belgien und Italien, die beide an den Märkten eher kritisch gesehen werden. In der Tat liegen sie beim Schuldenstand ganz oben (Italien 119 Prozent, Belgien 97 Prozent). Die laufenden Defizite führen sie aber ordentlich zurück.

Zur dritten Gruppe zählen die Staaten, deren öffentliches Defizit deutlich über 7 Prozent liegt. Hier befinden sich die „üblichen Verdächtigen“ Griechenland, Irland und Portugal. Dazu kommt Spanien (das aber nach wie vor einen niedrigen Schuldenstand von 60 Prozent hat). Für mich etwas überraschend ist, dass auch Frankreich und die Slowakei dazu zählen. Beide Länder hatte ich bisher so nicht im Fokus. Frankreich hat ein öffentliches Defizit von immer noch 7 Prozent. Die Slowakei liegt – trotz der guten Autokonjunktur – bei einem Fehlbetrag von 7,9 Prozent. Auf beide Länder sollte man in der Schuldendiskussion ein größeres Augenmerk lenken.

Deutschland ist mit seiner Finanzpolitik bei weitem nicht so gut, wie oft gesagt wird. Es lag auch in dem guten Konjunkturjahr 2010 mit seinem Defizit immer noch über der Maastricht Grenze. Der Fehlbetrag hat 2010 sogar leicht zugenommen. Das passt überhaupt nicht.

Konjunkturell wäre es Zeit, dass bald ein Überschuss erwirtschaftet wird. Dies auch aus konjunkturpolitischen Gründen. Denn die höhere Preissteigerung kann derzeit nicht ausreichend von der Geldpolitik bekämpft werden. Die EZB muss Rücksicht auf die anderen Europartner nehmen. Wichtig übrigens auch: Der Schuldenstand ist im letzten Jahr im Zusammenhang mit der Bankenkrise (konkret: Den Abwicklungsanstalten für Teile der HRE und der WestLB) noch einmal um über 200 Milliarden Euro. gewachsen. Er hat Ende letzten Jahres die Grenze von 2.000 Milliarden Euro. überschritten. Deutschland liegt jetzt mit 83 Prozent des Bruttoinlandsprodukts in einem kritischen Bereich.

Für den Anleger

Schauen Sie bei den Schuldenproblemen nicht nur auf die USA und die europäischen Peripheriestaaten. Auch in den anderen Regionen sind die Staatsfinanzen noch nicht in trockenen Tüchern. Vor allem Frankreich und die Slowakei müssen mehr beachtet werden. Die Finanzpolitik muss daher auf Sparkurs bleiben. Die Märkte für Staatsanleihen bleiben verwundbar.

Anmerkungen oder Anregungen? Martin Hüfner freut sich auf den Dialog mit Ihnen: redaktion@deutsche-boerse.com

© 29. April 2011/Martin Hüfner

Martin W. Hüfner ist Chief Economist bei Assenagon Asset Management S.A. Er war viele Jahre Chefvolkswirt beziehungsweise Senior Economist bei der HypoVereinsbank und der Deutschen Bank. In Brüssel leitete er den renommierten Wirtschafts- und Währungsausschuss der Chefvolkswirte der Europäischen Bankenvereinigung. Hüfner schreibt für große internationale Zeitungen wie die Neue Züricher Zeitung oder die Schweizer Finanz und Wirtschaft sowie für große Zeitungen in Deutschland. Er ist Autor mehrerer Bücher, u. a. „Europa – Die Macht von Morgen“ und „Comeback für Deutschland“.