Hüfners Wochenkommentar: "Die Nachteile niedriger Zinsen"

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Hüfner

18. November 2015. FRANKFURT (Börse Frankfurt). Dass die Zinsen in den meisten Industrieländern zu niedrig sind, weiß jeder. Sie müssten heute in Europa eher bei 2,5 Prozent bis 3 Prozent liegen als bei den 0,5 Prozent, bei denen sie tat­sächlich sind. Ist das schlimm? Anleger finden es natürlich ärgerlich, dass sie keine ordentliche Rendite bekommen. Schuldner freuen sich dagegen, weil Kredite billig sind. Im Übrigen aber, so scheint es, funktioniert die Volkswirtschaft ganz ordentlich. Die meisten haben sich mit der neuen Situ­ation abgefunden. Sie rechnen auf absehbare Zeit nicht mit höheren Zinsen.

Der Schein trügt jedoch. So unproblematisch ist die Sache nicht. Zinsen sind in einer Volkswirtschaft Preise. Wenn Preise falsch gesetzt werden, führt das zu Ungleichgewich­ten. Wenn das nur in einem begrenzten Sektor der Fall ist, sind die Wirkungen zu verschmerzen. Zinsen sind aber ganz wichtige Preise. Sie betreffen die ganze Breite wirt­schaftlichen Handelns.

Rendite zehnjähriger öffentlicher Anleihen
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in %, Quelle: Bundesbank

Die Höhe der Zinsen zeigt an, was die Zukunft im Verhältnis zur Gegenwart wert ist. Wenn die Zinsen zu niedrig sind, dann heißt das, dass die Zukunft relativ gesehen zu teuer ist. Was teuer ist, wird weniger nachgefragt. Zu niedrige Zin­sen leisten dem Kurzfristdenken Vorschub. Die Menschen schauen mehr auf das „Hier und Heute“. Sie verdrängen die langfristigen Folgen. Nachhaltigkeit bleibt auf der Strecke. Das ist gefährlich.

Die Wirkungen zeigen sich an vielen Stellen der Volkswirt­schaft. Hier zehn Beispiele:

Erstens: Die Altersvorsorge leidet. Wer selbst für sein Alter vorsorgt, hat bei der gleichen monatlichen Ersparnis später weniger zur Verfügung. Unternehmen können ihren Beschäftigten für die gleichen Pensionsrückstellungen am Ende nur noch eine geringere Rente auszahlen. Es droht Altersarmut.

Zweitens: Die Verschuldung wächst. Staaten nehmen zu viel Kredit auf. Unternehmen machen mehr Schulden. Sie ersetzen Eigenkapital durch Fremdkapital. Das macht sie anfälliger für Risiken.

Drittens: Sparer werden bestraft. Das kann entweder da­zu führen, dass die Menschen weniger auf die hohe Kante le­gen, weil sie keine vernünftigen Zinsen bekommen. Es kann aber auch sein, dass die Sparquote steigt, weil sonst die Sparziele nicht erreicht werden. Beides war in den letz­ten Jahren in Deutschland zu beobachten.

Viertens: Banken kommen in Schwierigkeiten. Für sie war die Transformation kurzfristiger Einlagen in langfristige Aus­leihungen traditionell ein Kerngeschäft. Das fällt jetzt weg beziehungsweise wird weniger rentabel. Kreditinstitute müs­sen sich neue (hoffentlich nicht riskantere) Geschäftsmodel­le suchen.

Fünftens: Versicherungen haben Probleme. Sie tun sich schwer, die Zusagen an ihre Kunden aus den vergangenen Jahren am Kapitalmarkt zu erwirtschaften. Der durchschnitt­liche Garantiezins aus früheren Lebensversicherungen liegt derzeit bei über 3 Prozent. Nur für neue Abschlüsse von Lebens­versicherungen beträgt der Garantiezins heute 1,25 Prozent.

Sechstens: Staatliche Regulierungen der Finanzmärkte greifen immer mehr um sich. Das sind die sogenannten ma­kroprudentiellen Maßnahmen, mit denen Banken und Versi­cherungen in dem Niedrigzinsumfeld sicherer gemacht wer­den sollen. Viele Regulierungen könnte man sich sparen, wenn die Zinsen steigen würden.

Siebtens: Die Risiken am Kapitalmarkt erhöhen sich, nicht weil die Anleger risikofreudiger geworden sind, sondern weil sie für ihre traditionellen Investments keine ordentlichen Renditen mehr finden. Zu viel Risikoneigung ist für eine Volkswirtschaft nicht gut.

Achtens: Die Aktien- und Rentenkurse sind – als Folge der niedrigen Zinsen – auf Niveaus gestiegen, die fundamental nicht mehr gerechtfertigt sind. Es haben sich vielfach Bla­sen gebildet. Die Gefahr, dass diese Blasen platzen, nimmt mit zunehmender Dauer der niedrigen Zinsen zu.

Neuntens: Auch am Immobilienmarkt zeigen sich Anzei­chen von Blasen. In Innenstadtlagen von Berlin und Mün­chen zum Beispiel haben die Preise Niveaus erreicht, die für normale Mieter und Käufer schwer zu bezahlen sind.

Zehntens: Die Gefahr von Fehlinvestitionen nimmt zu, weil der Zins als Maßstab zur Beurteilung der Rentabilität neuer Projekte nicht mehr taugt. Damit droht es zu Fehlallokatio­nen zu kommen, die am Ende zu Produktivitäts- und Wohl­standsverlusten führen.

Die Schlussfolgerung: Nichts gegen niedrige Zinsen als Instrument zur Nachfragesteuerung im Konjunkturzyk­lus. Sie sind aus der modernen Wirtschaftspolitik nicht wegzu­denken. Aber Vorsicht, wenn die Zinsen dauerhaft niedrig sind. Dann überwiegen die Nachteile.

Für Anleger

Die Märkte reagieren in der Regel positiv auf niedrige Zin­sen. Aktien- und Rentenkurse steigen. Investoren, die auf kurzfristige Gewinne aus sind (und das „Trading“ beherr­schen), können davon profitieren. Langfristig orientierte An­leger sollten jedoch die Gefahren anhaltend niedriger Zin­sen bedenken. Sowohl am Aktien- als auch am Renten­markt sind die derzeitigen Kurse vielfach überzogen. Rück­schläge sind möglich. Bereits jetzt dauert der Boom am Ak­tienmarkt mit sieben Jahren länger als alle seine Vorgänger in den letzten fünfzig Jahren. Vergessen Sie nicht sich ab­zusichern.

© Deutsche Börse AG, 18. November 2015.

Dr. Martin W. Hüfner ist Chief Economist bei Assenagon. Viele Jahre war er Chefvolkswirt der Bayerischen Hypo- und Vereinsbank AG und Senior Economist der Deutschen Bank AG. Er leitete fünf Jahre den renommierten Wirtschafts- und Währungsausschuss der Chefvolkswirte der Europäischen Bankenvereinigung in Brüssel. Zudem war er über zehn Jahre stellvertretender Vorsitzender beziehungsweise Vorsitzender des Wirtschafts- und Währungsausschusses des Bundesverbandes Deutscher Banken und Mitglied des Schattenrates der Europäischen Zentralbank, den das Handelsblatt und das Wallstreet Journal Europe organisieren. Dr. Martin W. Hüfner ist Autor mehrerer Bücher, unter anderem „Europa – Die Macht von Morgen“ (2006), „Comeback für Deutschland“ (2007), „Achtung: Geld in Gefahr“ (2008) und „Rettet den Euro!“ (2011).

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