Hüfners Wochenkommentar: "Nochmal: Flüchtlingskrise und Konjunktur"

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4. November 2015. FRANKFURT (Börse Frankfurt). Die bisherigen Konjunkturprognosen gehen davon aus, dass sich 2016 der Aufschwung für Deutschland fortsetzen wird. Hüfner vermutet, dass sich die Stimmung in der deutschen Wirtschaft verschlechtert, aufgrund der sich ändernden Stimmung in der Flüchtlingskrise. Statt der erwähnten 1,8 % werden es in Deutschland vielleicht nur 1,3 %.

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Ich fange an, die bisherigen Konjunkturprognosen in Frage zu stellen. Bisher gingen die meisten davon aus, dass sich der Aufschwung in Deutschland 2016 fortsetzen, vielleicht sogar leicht beschleunigen wird. Der private Verbrauch wird, so die Annahme, zunehmen und dämpfende Effekte, die vom Export kommen können, auffangen. Die Wirtschafts­forschungsinstitute taxierten den Anstieg der realen Wirt­schaftsleistung für nächstes Jahr auf 1,8  Prozent.

Ich fand diese Vorhersage ursprünglich vernünftig. Jetzt mache ich ein Fragezeichen dahinter. Grund ist, dass sich die Stimmung gegenüber dem Flüchtlingszustrom dreht. Die positiven Stimmen aus den Unternehmen werden leiser, die kritischen lauter.

Natürlich gilt nach wie vor, dass die Zuwanderung positive Nachfrageeffekte auslöst. Der private Verbrauch steigt. Der Staat muss zusätzliche Milliarden für Unterbringung, Trans­port, Registrierung, Schutz der Flüchtlinge und anderes ausgeben. Das erhöht für sich genommen das reale BIP um 0,3 bis 0,5 Prozentpunkte. Es wirkt wie ein Konjunkturpro­gramm (siehe mein Wochenkommentar vom 9. Sep­tember 2015).

Inzwischen zeigt sich jedoch, dass es daneben noch eine Reihe anderer Effekte gibt. Das hängt in erster Linie damit zusammen, dass der Staat beim Management der Krise in Verzug ist. Vom ursprünglichen Plan der Bundeskanzlerin, die „Kultur der Gründlichkeit durch eine Kultur der Flexibilität zu ergänzen“, ist bisher nichts zu erkennen.

Da kann man viele Beispiele nennen. Nach wie vor traut sich niemand, den Mindestlohn für Flüchtlinge in Frage zu stellen (obwohl die Löhne bei einer Zunahme des Arbeits­angebots natürlich sinken müssen). Flüchtlinge dürfen im­mer noch nicht als Zeitarbeiter eingestellt werden. Das Ver­bot der Arbeitsaufnahme für noch nicht anerkannte Flücht­linge gilt unvermindert weiter. Es gibt viele unbesetzte Lehr­stellen, die Flüchtlingen aber nicht angeboten werden kön­nen. Die Prüfung der Asylanträge dauert sehr lange.

Das zeigt: Es ging kein „Ruck“ durch die Verwaltung, wie es bei der Aufnahme von so vielen Flüchtlingen eigentlich erforderlich gewesen wäre. Solch ein Ruck hätte sich auch positiv auf die Reformbereitschaft und Dynamik in den Unternehmen ausgewirkt. Stattdessen versuchen Politik und Verwaltung das „Jahrhundertproblem“ mit den bisherigen Instrumenten zu lösen. Das kann nicht gut gehen. Hier wur­de eine Chance vertan. Allein auf der Ebene der Länder und der Kommunen werden derzeit flexibel und pragmatisch auch ungewöhnliche Maßnahmen umgesetzt. Davon geht aber leider kein Signaleffekt auf die Wirtschaft aus.

Die Folge ist eine Verunsicherung in der Gesellschaft. Das beginnt sich jetzt auch auf die Konjunktur auszuwirken. Die Verbraucher stellen sich auf eine Verschlechterung am Ar­beitsmarkt ein und werden bei ihren Ausgaben vorsichtiger. Damit wackelt die zentrale Stütze des Aufschwungs.

Unternehmer werden mit Investitionen zurückhaltender. So­lange sie nicht wissen, wie sich das gesamtwirtschaftliche Umfeld verändert (und ob nicht vielleicht die Steuern erhöht werden), verschieben sie geplante Projekte. Nur in der Bau­industrie dürfte es weiter aufwärts gehen. Denn dass mehr Wohnungen für die Migranten gebraucht werden, liegt auf der Hand.

Bei den Unternehmen kommt es nicht zu der erwarteten Entlastung beim Facharbeitermangel. Die Zahl der Arbeits­losen wird ansteigen, sobald die Flüchtlinge sich bei der Bundesanstalt für Arbeit als Jobsuchende registrieren las­sen können.

Rein theoretisch müsste es auch zu mehr Inflation kommen. Bisher war das nur bei besonders knappen Gütern wie Zel­ten, Containern oder auch bei Mieten zu beobachten. Wenn aber die gesamtwirtschaftliche Nachfrage steigt, ohne dass das Angebot entsprechend ausgeweitet werden kann, ist es nur natürlich, dass die Preise anziehen. Die Zentralbank könnte darüber glücklich sein, weil damit die Deflationsge­fahr abnimmt. Für die betroffenen Bürger ist es jedoch eher ein Ärgernis, das die Ausgabenbereitschaft weiter senkt.

Noch ein ganz anderer Effekt, der die Stimmung belasten wird: In Europa, vor allem in Griechenland, wird die für die weitere Entwicklung so wichtige Reformbereitschaft nach­lassen. Warum? Weil die Deutschen in den Brüsseler Gre­mien weniger Druck auf die Partner ausüben können. Denn sie brauchen deren Kooperationsbereitschaft (auch der Griechen) bei der Bewältigung der Flüchtlingsprobleme.

Aus all diesen Gründen meine ich, dass wir bei den Prog­nosen für die wirtschaftliche Entwicklung bescheidener werden müssen. Statt der erwähnten 1,8 Prozent werden es in Deutschland vielleicht nur 1,3 Prozent (siehe die gestrichelte Linie in der Grafik). Ich fand es bemerkenswert, dass die Um­frage des Deutschen Industrie- und Handelstages bei sei­nen Mitgliedern (die in der Regel nahe am Puls der Unter­nehmen ist), zu einem ähnlichen Ergebnis führte.

Für Anleger

Die meisten sehen den Flüchtlingszustrom bisher primär als politisch/gesellschaftliches Problem. Das ist es natürlich auch. Es wird aber auch Auswirkungen auf die Kapitalmärk­te haben. Die Aussichten für den Aktienmarkt werden trotz der expansiven Geldpolitik nicht mehr so positiv sein. Für die Rentenmärkte sehe ich derzeit noch keine Gefahren. Immobilienmärkte bekommen zusätzliche Impulse.

© Deutsche Börse AG, 4. November 2015.

Dr. Martin W. Hüfner ist Chief Economist bei Assenagon. Viele Jahre war er Chefvolkswirt der Bayerischen Hypo- und Vereinsbank AG und Senior Economist der Deutschen Bank AG. Er leitete fünf Jahre den renommierten Wirtschafts- und Währungsausschuss der Chefvolkswirte der Europäischen Bankenvereinigung in Brüssel. Zudem war er über zehn Jahre stellvertretender Vorsitzender beziehungsweise Vorsitzender des Wirtschafts- und Währungsausschusses des Bundesverbandes Deutscher Banken und Mitglied des Schattenrates der Europäischen Zentralbank, den das Handelsblatt und das Wallstreet Journal Europe organisieren. Dr. Martin W. Hüfner ist Autor mehrerer Bücher, unter anderem „Europa – Die Macht von Morgen“ (2006), „Comeback für Deutschland“ (2007), „Achtung: Geld in Gefahr“ (2008) und „Rettet den Euro!“ (2011).

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