Hüfners Wochenkommentar: Inverse Zinsstruktur


Hüfner

8. September 2011. FRANKFURT (Börse Frankfurt). Wenn die Zinsstruktur am Kapitalmarkt anomal wird, muss man auf der Hut sein. Seit einigen Tagen ist das in Deutschland tatsächlich der Fall. Die Renditen für fünfjährige Bundesanleihen sind unter die Zinsen für Drei-Monatsgeld gefallen. Am Jahresanfang lagen sie noch 100 Basispunkte darüber. Seitdem haben sich die kurzfristigen Zinsen aufgrund der Maßnahmen der Europäischen Zentralbank um 50 Punkte erhöht. Die langfristigen sind um 50 Basispunkte gefallen (siehe Grafik). Das ist noch nicht wirklich eine inverse Zinsstruktur. Eine solche macht man normalerweise an den 10-jährigen Renditen fest (die aber auch nur noch um 40 Punkte höher liegen). Es ist aber ungewöhnlich. Man muss es sich genauer anschauen.

Eine inverse Zinsstruktur signalisiert in der Regel eine bevorstehende Rezession. Die Notenbank hebt die Zinsen an, um die gesamtwirtschaftliche Nachfrage zu dämpfen. Gleichzeitig verringern sich die Renditen am Kapitalmarkt, weil die Gewinnerwartungen zurückgehen. Insofern ist die jetzige Zinsstruktur Wasser auf die Mühlen der Konjunkturskeptiker. Das ist aber nicht gerechtfertigt. Der Anstieg der kurzfristigen Zinsen von 1 Prozent auf 1,5 Prozent wirkt nicht wirklich restriktiv. Es ist eher eine Normalisierung. Die sinkenden Kapitalmarktrenditen haben nichts mit der schlechteren Konjunktur zu tun. Die Gewinnmargen der Unternehmen sind nach wie vor gut. In den USA, wo die konjunkturellen Gefahren noch größer als in Deutschland sind, gibt es keine Anzeichen für eine inverse Zinsstruktur.

Der Grund für die anomalen Verhältnisse bei den Zinsen liegt woanders. Er ist im Wesentlichen das Ergebnis der Eurokrise. Durch die Schwierigkeiten in den Peripherieländern schichten dort beheimatete Investoren, Gelder zunehmend in sichere Häfen um. Dadurch steigen die Renditen in ihren eigenen Ländern. Gleichzeitig sinken diejenigen in den Ländern, in die die Fluchtgelder gehen. In den ersten sechs Monaten dieses Jahres kauften Ausländer nach der Bundesbankstatistik festverzinsliche Wertpapiere in Höhe von 110 Milliarden Euro. Vor einem Jahr waren es nur 9 Milliarden Euro. Zu den Empfängern der Fluchtgelder gehören daneben auch die USA, Großbritannien und natürlich die Schweiz. In all diesen Staaten sind die Renditen deutlich gesunken.

Diese krisenbedingten Geldzuflüsse haben erhebliche Wirkungen. Erstens verwässert sich dadurch die Geldpolitik. Deutsche Banken sind zur Refinanzierung ihres Aktivgeschäfts nicht mehr darauf angewiesen, Mittel bei der Europäischen Zentralbank aufzunehmen. Sie können sich billiger am Kapitalmarkt refinanzieren. Das hilft der Konjunktur. Unternehmen haben keine Schwierigkeiten, Geld für ihre Investitionen zu bekommen. Die Immobilienfinanzierung in Deutschland boomt in vielen Teilen des Landes. Wenn sich die Weltkonjunktur nicht generell etwas abkühlen würde und damit die Preisgefahren nachlassen, müsste die Bundesbank aufgrund der Geldzuflüsse um die Stabilität besorgt sein.

Die Situation erinnert ein bisschen an die Verhältnisse in Deutschland in den 60er Jahren. Damals kam es aufgrund der Aufwertungserwartungen für die D-Mark zu massiven Geldzuflüssen. Das gefährdete den Geldwert. Die Bundesbank konnte sich dagegen nicht wehren, da Zinserhöhungen die Aufwertungserwartungen verstärkt hätten. Ähnlich die Situation jetzt in der Schweiz. Hier äußern sich die Geldzuflüsse allerdings nicht in Stabilitätsgefahren, sondern in einer deutlichen Aufwertung des Frankens. Das gefährdet am Ende die Konjunktur. Jetzt hat die Notenbank die Reißleine gezogen.

Zweite Wirkung der krisenbedingten Kapitalzuflüsse: Die öffentlichen Hände in Deutschland können ihren Kreditbedarf billiger decken, als das unter normalen Umständen der Fall wäre. Nach den üblichen Zinsmodellen müssten die Kapitalmarktrenditen heute um zwei Prozentpunkte höher liegen als das tatsächlich der Fall ist. Bund, Länder und Gemeinden müssten rund 40 Milliarden Euro mehr an Zinskosten aufwenden. Sie würden vermutlich auch in diesem Jahr noch gegen das Maastricht-Kriterium verstoßen. Die Lage der öffentlichen Finanzen stellt sich damit, an den aktuellen Zahlen gemessen, wesentlich besser dar als es tatsächlich der Fall ist. Der Spielraum für Steuersenkungen, über den heute häufig gesprochen wird, ist ein Phantom. Die Finanzminister leiden unter einer „Zinsillusion“.

Drittens falsifizieren die Kapitalzuflüsse die Diskussion über die sogenannte „Transferunion“. Die Deutschen beklagen sich darüber, dass der Steuerzahler für die Schuldensünder in Südeuropa und in Irland einstehen muss. Tatsächlich handelt es sich dabei aber lediglich um Kredite in Höhe von 24 Milliarden Euro (von denen bisher erst gut die Hälfte ausbezahlt sind) und um Garantien im Volumen von rund 50 Milliarden Euro (bei denen niemand weiß, ob sie je zu Zahlungen führen werden). Dem stehen Geldzuflüsse allein im Bereich der festverzinslichen Wertpapiere von den erwähnten 110 Milliarden Euro gegenüber (wobei es sich hier allerdings nicht nur um Gelder aus europäischen Ländern handelt). Per Saldo ist das für die Deutschen insgesamt kein schlechtes Geschäft. Nun könnte man sagen, dass die Gläubiger der Kredite und Garantien (= Steuerzahler) andere sind als die Empfänger der Kapitalzuflüsse. Es wird öffentliches Geld verliehen und es kommt privates Geld zurück. Das ist aber auch nicht ganz richtig. Denn viel Fluchtgeld wandert in den sicheren Hafen der Bundesanleihen.

Für den Anleger

Vorsicht bei Anlagen in festverzinslichen Wertpapieren. So wie die Renditen der Anleihen in den Krisenländern Europas zu hoch sind, so sind die Renditen in Kerneuropa zu niedrig. Hier hat sich eine Blase aufgebaut. Wenn es denn irgendwann zu einer Entspannung in der Eurokrise kommt, werden diese Renditen wieder steigen, mit entsprechenden Kursverlusten für den Investor.

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© 8. September 2011/Martin Hüfner

Martin Hüfner ist Chief Economist bei Assenagon Asset Management S.A. Er war viele Jahre Chefvolkswirt beziehungsweise Senior Economist bei der HypoVereinsbank und der Deutschen Bank. In Brüssel leitete er den renommierten Wirtschafts- und Währungsausschuss der Chefvolkswirte der Europäischen Bankenvereinigung. Hüfner schreibt für große internationale Zeitungen wie die Neue Züricher Zeitung oder die Schweizer Finanz und Wirtschaft sowie für große Zeitungen in Deutschland. Er ist Autor mehrerer Bücher, u. a. „Europa – Die Macht von Morgen“ und „Comeback für Deutschland“.

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