Hüfners Wochenkommentar: "Die Voodoo Economics der Leistungsbilanzüberschüsse"

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Hüfner

14. Februar 2013. FRANKFURT (Börse Frankfurt). Den Deutschen steht neuer Ärger ins Haus. In der vergangenen Woche wurden die Zahlen für die Leistungsbilanz im Jahr 2012 veröffentlicht. Danach hat Deutschland mit einem Überschuss von 6,2 Prozent des Bruttoinlandsprodukts die von der EU gerade noch als zulässig angesehene Schwelle von 6 Prozent erneut überschritten. Jetzt werden sich wieder viele den Mund zerreißen und von Deutschland mehr Anstrengungen zur Förderung der Binnennachfrage fordern.

Umgekehrt wird Deutschland darauf verweisen, was es alles zur Ankurbelung der Binnennachfrage tut. Nicht die Überschussländer (= „die Starken“) sollten sich anpassen, wird es wieder heißen. Vielmehr sollten umgekehrt die Defizitländer (= „die Schwachen“) ihre Wettbewerbsfähigkeit erhöhen. Dabei entspricht jedem Überschuss ex definitione ein Defizit. Insgesamt eine Never Ending Story. Ich finde, es ist an der Zeit, dass wir uns etwas Neues einfallen lassen.

Die Grafik zeigt, dass Deutschland in den letzten 30 Jahren stets einen Überschuss in der Leistungsbilanz hatte, bis auf zwei Sondersituationen: In der Ölpreiskrise in den 70er/80er Jahren und in der Zeit nach der Wiedervereinigung in den 90er Jahren. Es sieht so aus, als habe Deutschland eine „angeborene“ Disposition für solche Überschüsse. Es schafft es einfach nicht, sie zu reduzieren, auch nicht durch etwas höhere Lohnsteigerungen wie im letzten Jahr.

Ist das schlimm? Nein. Die Behauptung, dass ein Land a priori eine ausgeglichene Leistungsbilanz haben sollte, ist reine „Voodoo Economics“. Sie hat keinerlei theoretische Rechtfertigung. Keiner verlangt in einem Nationalstaat, dass jede Region eine ausgeglichene Leistungsbilanz haben soll. In Deutschland beispielsweise hat der Bayerische Wald ein Riesendefizit gegenüber München. Niemand nimmt davon Notiz. Die meisten wissen es noch nicht einmal. Nur die Fehlbeträge, die die neuen Bundesländer gegenüber den alten haben, sind so groß, dass sie als auf Dauer nicht tragbar empfunden werden. Warum soll dann nicht auch Italien ein Defizit gegenüber Deutschland haben?

Für immer Überschüsse?
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Deutsche Leistungsbilanz in % des BIP, Quelle: IWF, 2012 von mir geschätzt

Bei Gründung der Währungsunion ging die EZB davon aus, dass sie wie ein nationaler Binnenmarkt funktionieren würde. Sie war daher überzeugt, dass auf Dauer niemand etwaige Leistungsbilanzsalden zwischen den Ländern zur Kenntnis nehmen würde. Daher hat sie in ihren guten und umfangreichen Statistiken bis heute keine Zahlen zu den Leistungsbilanzen einzelner Mitgliedsländer.

Natürlich hat ein Leistungsbilanzsaldo für eine Region Vor- und Nachteile. Positiv ist beispielsweise, dass eine Zunahme des Saldos das Wirtschaftswachstum erhöht. Negativ ist, dass das Überschussland eigentlich ein schlechtes Geschäft macht. Es liefert Güter und Dienste an das Ausland und bekommt dafür keinen vernünftigen Gegenwert, sondern nur Forderungen. Etwas zugespitzt: Deutschland liefert Porsche ans Ausland und erhält dafür Papier(geld). Es müsste schon aus Eigeninteresse bestrebt sein, seinen Überschuss abzubauen.

Es gibt aber Situationen, in denen ein Überschuss am Ende trotzdem Sinn macht. Etwa, wenn ein Land aus demographischen Gründen in Zukunft weniger produzieren (und exportieren) kann, aber weiterhin Importe benötigt (weil die Menschen weiterhin konsumieren). Dann ist es gut, wenn es auf Reserven im Ausland zurückgreifen kann. In diesem Fall wäre der Exportüberschuss eine Art „Altersvorsorge für das Land“. Das trifft derzeit sicher für die Bundesrepublik zu.

Das entscheidende Kriterium zur Beurteilung eines Leistungsbilanzsaldos ist nicht, ob er positiv oder negativ ist. Wichtig ist allein, ob er finanziert werden kann. Innerhalb der Nationalstaaten ist das in der Regel kein Problem. Vorausgesetzt natürlich die Bonität der Schuldner „stimmt“. Im Falle der neuen Bundesländer waren massive öffentliche Transfers von West nach Ost notwendig.

Grenzüberschreitend ist die Finanzierung schwieriger. Wenn Deutschland einen Überschuss haben will, muss es bereit sein, einen entsprechenden Kapitalexport zu leisten. Wenn die Banken und der Kapitalmarkt das nicht tun, muss der Staat einspringen. Wenn auch er das nicht möchte (etwa weil die Wähler Angst vor einer Transferunion haben), bleibt nichts anderes, als den Saldo zurückzuführen. Gleiches gilt umgekehrt für Defizitländer.

Im Euro hat die Finanzierung der Leistungsbilanzsalden lange Zeit funktioniert. Jetzt ist sie durch die Eurokrise gestört. Die Banken wollen keine Forderungen gegenüber Peripherieländern halten. Sie überlassen das Geschäft lieber der Bundesbank. So entstehen die sogenannten „Target-Salden“, die Professor Sinn so heftig kritisiert. In einer solchen Zeit sollte man alles daran setzen, die Finanzierungsmechanismen wieder in Gang zu bringen. Dann wäre das Problem der Leistungsbilanzsalden gelöst.

Für den Anleger

Ein Leistungsbilanzüberschuss ist meist ein Zeichen für einen Vorsprung bei der Wettbewerbsfähigkeit. Das müsste eigentlich dem Aktienmarkt zugute kommen, vorausgesetzt, es ist nicht schon in den Kursen eingepreist. In Deutschland dürfte das im Augenblick der Fall sein. Der Markt reagiert in den seltensten Fällen auf die Veröffentlichung von Leistungsbilanzzahlen. Bei einem Leistungsbilanzüberschuss steigt normalerweise der Wechselkurs. Dieses Argument gilt hier aber nicht, weil Deutschland Teil der Währungsunion ist.

Anmerkungen oder Anregungen? Martin Hüfner freut sich auf den Dialog mit Ihnen: redaktion@deutsche-boerse.com.

© 14. Februar 2013 /Martin Hüfner

Dr. Martin W. Hüfner ist Chief Economist bei Assenagon. Viele Jahre war er Chefvolkswirt der Bayerischen Hypo- und Vereinsbank AG und Senior Economist der Deutschen Bank AG. Er leitete fünf Jahre den renommierten Wirtschafts- und Währungsausschuss der Chefvolkswirte der Europäischen Bankenvereinigung in Brüssel. Zudem war er über zehn Jahre stellvertretender Vorsitzender beziehungsweise Vorsitzender des Wirtschafts- und Währungsausschusses des Bundesverbandes Deutscher Banken und Mitglied des Schattenrates der Europäischen Zentralbank, den das Handelsblatt und das Wallstreet Journal Europe organisieren. Dr. Martin W. Hüfner ist Autor mehrerer Bücher, unter anderem „Europa – Die Macht von Morgen“ (2006), „Comeback für Deutschland“ (2007), „Achtung: Geld in Gefahr“ (2008) und „Rettet den Euro!“ (2011).

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